Headerfoto Abschaffung der Straßenausbaubeitragssatzung

Abschaffung der Straßenausbaubeitragssatzung

Protest, Sekt und Suppe

MZ-Beitrag in Köthener Zeitung am 07.02.2020
CDU-EMPFANG Die Demonstranten warten vergeblich auf eine Begegnung mit Ministerpräsident oder Innenminister. Kramp-Karrenbauer hat abgesagt.

Protest, Sekt und Suppe

VON FRANK JUNGBLUTH UND KARL EBERT

KÖTHEN/MZ Draußen in der Dämmerung, bei vier Grad plus, warten fast 200 Demonstranten vor dem Köthener Schloss auf Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) und Innenminister Holger Stahlknecht (CDU). Aber die Spitzenpolitiker wollen lieber ins Warme statt die Kontroverse mit den Gegnern der umstrittenen Straßenausbaubeiträge. Es ist 17.24 Uhr an diesem Donnerstagabend, der Neujahrsempfang der CDU Anhalt-Bitterfeld hat gerade begonnen und die Vorsitzende der Bundes-CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, deretwegen viele der 350 Gäste hier sind, wird nicht kommen.
Einen heißen Empfang wollten die Demonstranten Ministerpräsident Reiner Haseloff und Innenminister Holger Stahlknecht vor dem Schloss bereiten. Menschen aus Sachsen-Anhalt, die sich der Landesinitiative „Faire Straßen“ angeschlossen haben, und die Köthener Bürgerinitiative. Sie sind aus Dessau, Köthen, Aschersleben, dem Burgenlandkreis, Bobbau, Bad Lauchstädt und vielen anderen Orten.

Das 36.000-Euro-Schicksal

Jutta Brötz, Heike Richter und Doris Noah aus dem Bitterfeld-Wolfener Stadtteil Bobbau sind dabei. Die 56-jährige Jutta Brötz kämpft seit Monaten mit ihrem Mann dagegen, 36.000 Euro für den Neubau ihrer Straße zu bezahlen. Heike Richter, die Rentnerin ist, sagt, dass sie ruiniert wäre, wenn die Rechnung wirklich käme. Die Damen wärmen sich mit dicken Jacken und Schals, die Spitzenpolitiker aus Magdeburg, mit denen sie eigentlich sprechen wollen, entscheiden sich für den Hintereingang und lassen ihre dunklen Limousinen über die Theaterstraße durch den Park zum Veranstaltungszentrum rollen. Nur Köthens Oberbürgermeister Bernd Hauschild (SPD) sucht das Gespräch mit der Protestbewegung. Als Landrat Uwe Schulze mit etwas Verspätung dann doch durch jenes Tor fährt, vor dem die Proteste stattgefunden haben, sind die Demonstranten bereits auf dem Heimweg. Gegen 18 Uhr war der Schlossplatz wie leer gefegt. Die Repräsentanten der Demokratie scheuen offenbar den Diskurs mit ihrem Volk. Das ist die Botschaft, die bei den Demonstranten an diesem Abend vor dem Schloss ankommt.

Spruchbänder und Plakate

Dabei hatten die Demonstranten durchaus etwas zu erzählen. Auf Spruchbändern und Plakaten forderten sie die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge rückwirkend zum 1. Januar 2019. „Straße saniert, Bürger ruiniert“, war da zu lesen. „Mit 198 Millionen Euro Nord/LB retten, aber kein Geld für Straßen“, wollten sie Haseloff und Stahlknecht unter die Nase halten. Auch auf die jüngsten politischen Entwicklungen durch die Wahl des Ministerpräsidenten von Thüringen hatten einige spontan reagiert. „CDU Kramp Nein“ stand auf einem Plakat mitten auf dem Schlossplatz. Der Besuch der Verteidigungsministerin und CDU-Bundeschefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die eigentlich als Ehrengast auf dem Neujahrsempfang reden sollte, war am Mittag von der Bundeszentrale mit der Begründung von Terminproblemen abgesagt worden. Immerhin, die Bundesverteidigungsministerin und CDU-Vorsitzende hat eine Video-Botschaft aufnehmen lassen. Eine knappe Minute lang ermuntert sie die Parteifreunde und Gäste im Bach-Saal von der Leinwand und wünscht einen schönen Abend. Das Thema, das ihre Reise nach Köthen verhindert hat, meidet Kramp-Karrenbauer. Die Regierungskrise in Thüringen, den Aufschrei bundesweit und beinahe auf der ganzen Welt, dass AfD und CDU zusammen einen Ministerpräsidenten gewählt haben, der sein Amt aber nun doch wieder abgeben wird.
Das interessiert Bärbel Kaul an diesem Abend aber nicht. Sie hat andere Sorgen. Die 66-jährige Köthenerin hat sich unter die Demonstranten gemischt, um mit einem Plakat um den Hals auf ihr Schicksal mit dem, wie es in Köthen heißt, Sanierungsbeitrag, aufmerksam zu machen. Die selbstständige Gastronomin hat am Neustädter Platz drei Grundstücke. Insgesamt 49.000 Euro verlangte die Stadt dafür von ihr. 15 Euro für jeden einzelnen Quadratmeter. „Ich habe die Summe mittlerweile bezahlt. Dafür musste ich meine Altersvorsorge auflösen. Ehe dieses ganze Prozedere geschafft war, haben mir meine Eltern finanziell unter die Arme gegriffen und die Raten gezahlt“, erzählt sie.

Applaus und klare Kante

Die demonstrierenden Anwohner der Querstraße in Bobbau, die auch schon mehrfach vor dem Landtag in Magdeburg gegen den Ausbau ihrer Straße zu ihren Lasten protestiert haben, wollen hier in Köthen einen Brief an Annegret Kramp-Karrenbauer übergeben. Wer wird jetzt der Adressat, wo doch niemand Notiz vom Protest zu nehmen scheint?
Drinnen im Veranstaltungssaal spielt die Big-Band der Musikschule „Falling in love with you“. Später, als der große Saal mit den mehr als 300 Gästen gefüllt ist, geben die Musikfreunde Köthen, ein Streichquartett, eine Gavotte von Bach zu Gehör. Es gibt Sekt am Eingang, die Brötchen sind belegt, die Suppe dampft im Behältnis, es gibt artigen Applaus für die Protagonisten. Innenminister Holger Stahlknecht spricht in die Kameras, dass man Haltung zeigen müsse in diesen Tagen mit dem fatalen Signal aus Thüringen. „Mich macht es betroffen, dass eine extremistische Partei wie die AfD Steigbügelhalter der Macht war.“

„Wenn ich den Beitrag zahlen muss, bin ich ruiniert“ Heike Richter, Rentnerin

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